The Strange / Cypher System Review
Hallo, ich bin Thomas und ich habe ein Problem: Ich lebe in einer immer größeren Anzahl von Welten gleichzeitig.
Ich habe jedes Buch in Skyrim gelesen (NATÜRLICH steht auch die Skyrim-Library im 3-bändigen Hardcover in meinem Regal), ich kenne die Geheimidentität von schätzungsweise 500 Comic-Superhelden (The Blob ist Fred Dukes. Warum zum Geier ist mein Gehirn der Meinung, sowas speichern zu müssen?), binge-watche Serien staffelweise auf Netflix – und lese Regelwerke und Settings zu Rollenspielsystemen, von deren Existenz ich vorher noch nie etwas gehört habe…
Enter „The Strange“.
Kurz vor dem Ende der Welt as we know it habe ich einen meiner üblichen „Hui, das klingt cool“-Käufe bei Humble Book Bundle getätigt und mir einen Batzen an digitalem Quellmaterial zu Monte Cooks „The Strange“ und dem zugrunde liegenden „Cypher System“ besorgt. Der Aufhänger des Settings passte einfach zu gut zu meinem oben beschriebenen „Problem“ (was natürlich gar keins ist, wie jede*r Rollenspieler*in bestätigen kann): In „The Strange“ bereisen die Spieler*innen am laufenden Band andere Welten, die (unter anderem) aus den hiesigen Fiktionen entstanden sind. Dazu kommt ein simples Regelwerk, das bei der Charaktererschaffung auf recht wenige Grundwerte, aber eine massive (und ich meine MASSIVE!) Palette an Fertigkeiten in einer Art Baukastensystem zurückgreift. Im Vergleich zu D&D tritt die weitere Charakterentwicklung danach aber etwas in den Hintergrund und macht Platz für ein story/narrative-driven Gameplay.
Das Spiel bewirbt sich selbst mit dem Hauptfokus auf „Discovery & Exploration“, also Entdecken und Erkunden. Und bevor jemand das Offensichtliche kommentiert: Natürlich kann man das mit JEDEM Regelsystem umsetzen – gerade die Adventure Corp ist ein hervorragendes Beispiel dafür, dass D&D auch wunderbar ohne stundenlange Regeldebatten, Myriaden an Kampfoptionen und stundenlangen Dungeon-Crawls auskommen kann (wobei die aufgezählten Dinge natürlich auch ihren Charme haben ).
Ich habe inzwischen das 400 Seiten starke The Strange Corebook verschlungen, auch in das Cypher Corebook reingeschaut und bin ein bisschen verliebt in Setting und System. Und damit sich meine Schwärmerei nicht nur meine Frau jeden Abend anhören muss, werde ich Euch, werte Leser, teilhaben lassen an meinem Lobgesang. Dazu aber eine Anmerkung: Ich habe es noch nicht gespielt. Was in der Theorie super klingt, kann in der Praxis fieser Murks sein.
Ich möchte gerne beide Aspekte – Setting und Regelwerk – beleuchten. So wie es sich im aktuellen Schreibfluss anfühlt, wird es wohl ein längerer Beitrag werden…
Rekursion? Bitte keine Mathematik! – The Strange Setting
Ich muss vorwarnen: Mir ist keine deutsche Übersetzung des Materials bekannt, ich werde hier also größtenteils mit den englischen Begriffen um mich werfen. Rekursionen habt ihr eben zum letzten Mal gelesen, ab jetzt sind das Recursions.
„The Strange“ ist ein Netzwerk dunkler Energie, das sich außerhalb des „normalen“ Universums befindet und vor Milliarden von Jahren von einer mittlerweile ausgestorbenen Alien-Zivilisation als Transportsystem erschaffen wurde. Mittels des Netzwerks konnte man instant zwischen zwei Orten reisen, indem man sich über einen Zugang zum Strange am Startpunkt „Hoch-“ und am Zielpunkt „Herunterladen“ konnte. Wie es immer so ist mit uralten Technologien, ist das natürlich alles in die Binsen gegangen und funzt nicht mehr so wie gedacht. Stattdessen ist das auch „Chaossphere“ genannte Strange nur noch ein unbeschreibliches, in sich selbst unendlich verdrehtes …. fraktales Ding… aus Nebel und … Zeug (es gibt Bilder im Buch), dass „neben“ unserem Universum existiert und an einigen Stellen überlappt. Natürlich lebt dort mittlerweile allerlei fieses Getier wie die unglaublich kreativ benannten Planetovores, die jede sogenannte „Prime World“ (also ein Planet im „echten“ Universum) wegsnacken, sobald dort jemand dumm oder unvorsichtig genug ist, durch einen network-ping (das denk ich mir nicht aus, das steht da so) ins Strange auf sich aufmerksam zu machen.
Gottseidank ist ausgerechnet die Erde ein besonderer Fall. Aus …. Gründen… gibt es im Bereich des Strange, der der Erde am nächsten ist (die sogenannten „Shoals of Earth“), jede Menge sogenannte „Recursions“ – künstlich erschaffene oder von selbst entstandene Taschendimensionen, die die Erde quasi vor einer Entdeckung der Böslinge schützen (so hab ich das jedenfalls verstanden). Diese Recursions sind das Herzstück des Settings. Neben zwei im Buch recht ausführlich beschriebenen großen Recursions – das Fantasy-Reich Ardeyn, an dessen Rändern man in das Strange fallen kann und die SciFi-Dystopie Ruk – existieren Hunderte, wenn nicht Tausende, in sich geschlossene Welten, die aus sogenannter „fictional leakage“ der Erde entstanden sind. Hallo the Elder Scrolls, Hallo Dragon Age, Hallo Metropolis, Hallo The Walking Dead! Größe (und Alter) der Recursions variieren dabei von überschaubar klein (nur ein Haus wie in Resident Evil 1), über so mittel (eine Stadt wie Bioshocks Rapture oder Sherlock Holmes‘ London), bis riesig groß (TES‘ Nirn, D&Ds Faerun, etc.). In meinem Kopf ist das Strange so etwas wie ein Mittelding aus Star Treks Subraum- bzw. Star Wars Hyperraum-Konzepten und dem Bleed aus DCs Multiverse.
Ein wichtiger Punkt des Settings ist dabei das „Bewusstsein“ der Bewohner der Prime Worlds und Recursions. Lebewesen mit dem „Spark“ sind sich ihrer selbst bewusst und haben einen freien Willen, d.h. sie können die Realität des Stranges an sich in der Theorie begreifen. Das trifft auf der Erde für alle Menschen zu, in vielen der größeren Recursions auf viele – gerade in den kleineren Dimensionen aber sehr wenige. Lebewesen ohne Spark sind letztendlich „Marionetten“ ihrer Recursions und folgen ihrem „Schicksal“ oder einer festgelegten „Routine“, egal, was ein potenzieller Recursor (ein Reisender aus einer anderen Welt oder Recursion) mit ihnen anstellt. NPCs in Videospielen. Stufe zwei ist das sogenannte „Quickening“. Quickened Lebewesen haben den Spark und zusätzlich eine direkte Verbindung zum Strange. Diese äußert sich darin, dass sie a) spannende übernatürliche Fähigkeiten haben und b) in der Lage sind, ohne Hilfsmittel zwischen Recursions zu reisen oder sogar selbst welche zu erschaffen.
Und ab hier komme ich ins Schwärmen. Alle Spieler*innen einer The Strange Runde sind quickened – aber wer aus den unzähligen Recursions ist es auch oder hat wenigstens den Spark? Laufen auf der Erde unzählige Leute aus fiktionalen Dimensionen unerkannt rum (Spoiler: JA!). Das mit dem Reisen zwischen den Welten haben sich die Autoren nämlich auch gut überlegt. Auf der einen Seite gibt es direkte Verbindungen über Portale, die in zwei Sorten existieren. Durch Sorte 1 (Inapposite Gates) kann jeder durchlatschen (auch ohne Spark) und auf der anderen Seite wieder genauso rauskommen, wie er reingegangen ist – wird aber dort wahrscheinlich nicht lange überleben, wenn diese Welt anderen Naturgesetzen unterliegt – magische Wesen aus Ardeyn verlieren ihre „Basis“ auf der Erde und zerfallen nach einiger Zeit. Einmal ein Bataillon Soldaten mit Maschinengewehren nach Mordor schicken? Oder ein Balrog nach Seattle? Warum nicht? Die leben halt nicht lang da, aber was soll der Geiz?
Noch spannender sind allerdings die Portale der Sorte 2, die die „sichere“ Art des Reisens zwischen Welten darstellen und mit dem sogenannten „Translation“-Konzept vereinfachen, was man sonst auch aus purer Willenskraft schaffen kann. Quickended Leute kommen mittels der Translation (sei es durch ein Portal, einen Gegenstand, oder eben „einfach so“) unbeschadet in eine andere Welt – werden dort aber ein Teil eben dieser. D.h. sie werden in eine Version ihrer selbst „übersetzt“, die in die Welt hineinpasst. Sie sehen anders aus, haben andere Fertigkeiten und eine gewisse „Verbindung“ zur Recursion, so dass sie dort nicht als die absolut krassen Kackn00bs rumlaufen (wobei das für mich gerade den Charme ausmacht – dazu später mehr).
Jetzt fragt sich der*die ein*e oder andere möglicherweise, warum denn überhaupt Leute zwischen den Welten rumreisen wollen (abgesehen von reiner Neugier – Discover and Explore, remember?) Hier schmeißt uns das Setting (und das Regelwerk) die sogenannten Cyphers entgegen. Diese sind mächtige Artefakte aus Strange-Energie, die als einzige Gegenstände im Translationprozess nicht verloren gehen und äußerst beliebt sind. Quickened Lebewesen habe durch ihre Verbindung zur Strange auch einen unwiderstehlichen Drang, diese Cyphers zu besitzen. Darüber hinaus beschreibt das Buch auch eine Handvoll von Organisationen, die mehr oder weniger im Verborgenen ein Auge auf die ganze Reiserei oder weniger altruistische Motive haben. So schickt zum Beispiel das „Estate“ als eine Art Dimensionspolizei ihre Agenten quer durch die Strange, um die Erde vor gefährlichen Recursors oder gar den fiesen Planetovores zu schützen.
Da wir neben den Cyphers noch ein/zwei mehr Setting-Konzepte haben, die eng mit dem Regelwerk bzw. den Spielstil des Systems verbunden sind, nehme ich das direkt als Schlusstrich zum Setting. Ab in die Spielmechanik!
Cypher – war das nicht der Typ aus Matrix? – Das Cypher System
Okay, das wird jetzt am Anfang einen Tacken kompliziert, da The Strange und das Cypher System theoretisch für sich alleine stehen und doch zusammengehören. Die Beziehung von The Strange und dem Cypher System ist wie die von D&D und d20. Das erste ist ein an ein bestimmtes Setting angepasstes Regelwerk auf der abstrakteren Basis des zweiten. Man „braucht“ das Cypher System (bzw. das Corebook dazu) überhaupt null, um The Strange zu spielen. Das The Strange Corebook reicht völlig aus – aber meiner persönlichen Meinung nach sollte man unbedingt einen Blick in das Cypher System reinwerfen und die dortigen Erweiterungen berücksichtigen. Einfach, weil das die Möglichkeiten für die zu spielenden Charaktere um ein Vielfaches erweitert. Ein Vergleich: Das Corebook von The Strange listet 13 Descriptoren (später mehr dazu) – im Cypher System haben wir 50. Das beschriebene Regelwerk selbst ist in beiden Büchern identisch und weicht nur im „Anwendungsbereich“ ab. Ich habe große Teile des Cypher Corebooks nur überflogen, da sehr vieles davon 1:1 im The Strange Corebook stand. Im Folgenden werde ich das wahrscheinlich etwas zusammenschmeißen, wenn es um die zwei wichtigen Elemente eines jeden Rollenspielsystems geht: Die Regeln des gemeinsamen Spielens und das Erschaffen (und Ausspielen) von Spieler-Charakteren.
Das System ist vor allem aus Sicht des*der Spielleiter*in in meinen Augen unglaublich einfach und so designed, dass er*sie sich nahezu vollständig auf die „wichtigen“ Dinge konzentrieren kann. Das liegt an zwei Dingen: Es wird fast ausschließlich mit D20 gewürfelt und es würfeln fast ausschließlich die Spieler*innen. Alles, was im Spiel passiert, wird auf Proben mit einem vom*von der Spielleiter*in zugewiesenen Schwierigkeitsgrad runtergebrochen. Dieser ist letztendlich ein Wert zwischen 0 (Routine) bis 10 (nahezu unmöglich) und wird 1:3 in Würfelaugen übersetzt. D.h., um eine Probe der Stufe 1 zu schaffen, muss ich eine 3 würfeln, für Stufe 4 eine 12, für Stufe 6 eine 18, und ab Stufe 7 wird es spannend, da müsste man nämlich eine 21 würfeln. Während d20 hier den Weg diverser Boni auf Würfe geht, macht Cypher das genau andersrum. Dem*der Spieler*in steht eine Vielzahl an Möglichkeiten zur Verfügung, den Schwierigkeitsgrad einer Probe zu senken. Oder zu erhöhen, das geht natürlich auch in die andere Richtung.
Das geht los bei passiven Eigenschaften des Charakters (Du bist aus Stein, alles was irgendwie mit dem Zerschlagen von Dingen zu tun hat, ist für Dich eine Schwierigkeitsstufe leichter), weiter bei Skills (Du bist Tischler und weißt genau, wo Du bei einer Holztür draufhauen musst, um sie zu besser zu zerhauen), Gadgets (Du hast eine Kettensäge), Hilfestellungen (Spieler*in X haut mit drauf) oder die aktuelle Situation an sich (Du bist unter Wasser – das wird jetzt ne Stufe schwieriger), und endet bei der Entscheidung des*der Spieler*in, „Effort“ zu investieren, also „sich Mühe zu geben“. Gerade dieses letzte Element finde ich sehr spannend, weil man damit dem Würfelglück punktuell auf die Sprünge helfen kann. Um das Effort-Konzept zu verstehen, müssen wir kurz zu den wenigen Werten eines Charakters kommen.
Das Cypher System gibt einen sehr überschaubaren Satz an Werten vor. In den drei „Kategorien“ Might (alles rund um Kraft und Ausdauer), Speed (alles, was mit (Reaktions-)geschwindigkeit zu tun hat) und Intelligence (für soziales Verhalten, Ausstrahlung, Intelligenz, usw) haben wir je zwei Werte: Der sogenannte „Pool“ stellt eine Anzahl von Punkten zur Verfügung, die man in dieser Kategorie „ausgeben“ kann – das ist also so etwas wie die „Menge“ an Aktionen, die man beeinflussen kann. Der zweite Wert „Edge“ trifft eine Aussage über die „Qualität“ der Aktionen der entsprechenden Kategorie und verringert die notwendigen Punktkosten. Am Beispiel heißt das: Ich will durch „Mühe geben“ den Schwierigkeitsgrad des Türzerhauens um eins senken – dafür muss ich 3 Punkte aus meinem Mightpool abgeben. Ich habe aber einen Might-Edge von 1 und muss nur 2 Punkte „bezahlen“. Der letzte Wert „Effort“ gibt eine Höchstgrenze an „Mühe geben“ an, den man pro Probe ausgeben kann. Der ist am Anfang bei 1, d.h. ich kann für eine Probe durch Mühe geben die Schwierigkeit nur maximal um eine Stufe senken. Wenn das dann später mehr wird, kann ich mehr Poolpunkte „reinbuttern“, um die Schwierigkeit weiter zu senken. Poolpunkte sind auch häufig die „Währung“ für die Anwendung aktiver Fertigkeiten, auch hier verringert Edge die Kosten.
Und das ist im Kern eigentlich alles. Die Pools sind gleichzeitig auch Hitpoints und sinken also bei Treffern, bzw. man kann theoretisch auch an „Erschöpfung“ leiden, wenn man einen seiner Pools komplett auspowert. Auch Kämpfe sind nichts anderes als Proben. Die Spieler*innen müssen Proben schaffen, um zu treffen, der Schaden ist pro Waffenkategorie auf einen festen Wert bestimmt (kein Wurf) und kann durch Effort-Einsatz erhöht werden. Sie müssen eine Probe werfen, wenn sie angegriffen werden, um zu ermitteln, ob sie getroffen werden oder nicht. Vom Schaden kann man dann noch den Rüstungswert seiner Klamotten abziehen und fertig. Der*die Spielleiter*in lässt die Würfel stecken und bestimmt „nur“ die Schwierigkeitsgrade und in Zusammenarbeit mit den Spieler*innen die entsprechenden Anpassungen daran. Besonders gute und schlechte Würfe werden belohnt und bestraft – bei einer 20 bekommt man beispielsweise alle investierten Poolpunkte wieder, bei einer 1 gibt es eine fiese GM Intrusion (dazu später mehr). Crits und Fails gibt es also auch hier. Regeneriert werden die Poolpunkte durch einen Recovery-Wurf in der guten alten Rast, wobei es regeltechnisch etwas komfortabler als etwa bei D&D zugeht. Man kann bis zu vier mal am Tag „rasten“, das erste Mal kostet aber nur wenige Sekunden, das letzte Mal mehrere Stunden.
Bei der Charaktererschaffung geht es dann doch etwas ausschweifender zu. Ein Charakter definiert sich im Cypher-System über die Formel „Ich bin ein <Adjektiv> <Substantiv>, der*die <Verb>t“. Die Satzbausteine korrelieren dabei mit den 3 „Bausteinen“ eines Charakters. Hauptwahl liegt dabei auf dem Character Type, dem „Substantiv“. Dieser Typ oder Archetyp bestimmt die Hauptausrichtung des Charakters. In „The Strange“ gibt es drei davon: „Vectors“ sind „Action“-Charaktere, die eher „körperlich“ arbeiten (Athlet*innen, Soldat*innen, etc.); „Paradoxes“ sind Menschen mit Kräften, die die Realität verändern können (Magier*innen, Wissenschaftler*innen, etc.) und „Spinner“ (bitte englisch lesen) manipulieren gewandt andere Menschen (Betrüger*innen, Politiker*innen, Schauspieler*innen, etc.). Im Cypher-System sind diese Archetypen minimal anders definiert und heißen hier verallgemeinert „Warrior“, „Adept“ und „Speaker“, dazu kommt noch ein „Explorer“ als Jack-of-all-Trades. Wie in vielen anderen Systemen bestimmt die Wahl des Archetyps die „Startausrüstung“, in diesem Fall also die zur Verfügung stehenden Pool- und Edge-Werte, sowie Spezialfertigkeiten („Moves“, „Revisions“ & „Twists“ wie sie bei den drei Typen heißen) und Skills.
Kurzer Einschub zu Skills: Das System gibt ein paar Startskills pro Archetyp vor, ganz typische Dinger wie Schwimmen, Rennen, Klettern, ist aber sonst unreglementiert. Da es nur zwei Stufen des Trainings gibt (Stufe 1: Trainiert – Schwierigkeitsgrad sinkt um 1; Stufe 2: Experte – Schwierigkeitsgrad sinkt um 2), wird explizit darauf hingewiesen, dass sich hier Spieler*innen und Spielleiter*in austoben können, wie sie wollen. Sprachen, Berufe, spezielles oder eher allgemeines Wissen – whatever floats your boat. Muss halt alles am GM vorbei, der*die letztendlich entscheidet, wann ein Skill eine Probe erleichtert.
Zurück zum Charakter. Das Adjektiv wird durch sogenannte Descriptors repräsentiert, die den Charakter weiter formen – üblicherweise wird dabei noch auf einen Pool was draufgeschlagen, es gibt weitere Skills oder Startequipment dazu. Dazu kommen aber gerne auch „negative“ Skills, die quasi eine Unfähigkeit in bestimmten Gebieten ausdrücken und somit entsprechende Proben erschweren, statt zu erleichtern. Mein heimlicher Favorit aus dem Cypher-System ist der Descriptor „Clumsy“, der einen Tollpatsch beschreibt, der stark (Mightpool+2), aber ungelenk (Speedpool-2) ist, und dem der*die GM permanent gewürfelte Einsen unterschieben darf. Der Clou dabei: In 50% dieser Fälle führt der Fail zu einem Glücksfall für den*die Spieler*in. Dumm gestolpert, dabei aber dem Gegner die Waffe aus der Hand geschlagen. Oder dabei glücklicherweise einem Angriff ausgewichen. Ich hau mich weg. Wie oben erwähnt, bietet das Strange Corebook nur 13 dieser Descriptors, während Cypher satte 50 bietet.
Der letzte Baustein, das Verb, ist der sogenannte Focus und ist der wichtigste Aspekt eines Charakters (sagt zumindest das Buch – der Clumsiness-Descriptor toppt in meinen Augen alles an Wichtigkeit). Der Focus ist so etwas wie der Beruf, Hobby, das „Ding“ des Charakters. Regeltechnisch beschert er „nur“ weitere Fertigkeiten oder Skills des Charakters. Bei The Strange sind das knapp 25, im Cypher-System gut 100. Die Autoren hatten da auch sichtlich Spaß. Ein paar Highlights sind „Battles Robots“, „Controls Gravity“, „Exists in Two Places at Once“, „Is Idolized by Millions“ oder „Sailed beneath the Jolly Roger“. Foci sind besonders wichtig beim Weltenwechsel – diese darf bzw. muss man nämlich beim translaten auf etwas wechseln, das zur entsprechenden Recursion passt. Ein paar der Foci sind zwar „draggable“, kann man also „mitnehmen“, aber wo ist denn da der Spaß? Wieviel cooler ist es denn bitte, in jeder Recursion einen anderen Focus zu haben? In Ardeyn bin ich ein ein Golem durch „Abides in Stone“, in Ruk kann ich mittels „Spawns“ Klone von mir erstellen und auf der Erde kann ich mit „Conducts Weird Science“ geilen Scheiß aus einem Tennisschläger und einer Kugelschreibermine bauen. Aber klar, ich kann auch langweilig mein „Solves Mysteries“ überallhin mitnehmen… pfft.
Jetzt habe ich hier permanent von Fertigkeiten gesprochen, die einem links und rechts durch die Bausteine aufgedrückt werden. Bitte schon mal Kinnlade ölen: Im Cypher-System sind über Tausend (1000!!) passive und aktive Fertigkeiten beschrieben, die sich natürlich quer über Archetypen, Descriptors und Foci verteilen. TAUSEND! Im Strange Corebook sind sie leider nur direkt in den Bausteinen zu finden und nicht separat gelistet, das wird dort aber nur ein Bruchteil sein. Letztendlich sind das am Ende die Spells, Feats, Special Attacks und whatnot aus anderen Systemen. Man kann sich hier also initial seinen Wunsch-Charakter zusammenbauen. Im Cypher-System gibt es auch noch einen vierten Baustein „Flavour“, mit dem man diverse Fertigkeiten durch andere ersetzen kann, das ist mir persönlich aber erstmal noch zu viel des Guten.
Das „Leveln“ ist im Vergleich zu anderen Systemen allerdings weniger spektakulär, da passiert nämlich gar nicht mehr soo viel, wie in D&D zum Beispiel. XP werden vom Spielleiter nach Gusto vergeben und in GM Intrusions (ich erkläre sie noch, wirklich!) verteilt. Man darf sie dann für eine von 4 Steigerungen ausgeben: Maximalen Effort erhöhen, einen Skill lernen oder erhöhen, Pools erhöhen, Edge erhöhen. Hat man diese vier Steigerungen in beliebiger Reihenfolge erledigt, erreicht der Charakter einen höheren „Tier“ und schaltet damit neue Fertigkeiten im Archetyp und Focus frei (oftmals besteht dort Wahlpflicht, man sucht sich also eine von ein paar Fertigkeiten aus und darf auch eine auf einem niedrigeren Tier austauschen). Ein „Hinarbeiten“ auf einen gewissen „build“ oder multiclassing ist hier also eher unüblich. Das Cyphersystem ermuntert aber auch dazu neue Descriptors und Foci zu customizen, sich also selbst ein Wunsch-Set aus all den Fertigkeiten über die sechs vorgesehenen Tiers zusammenzustellen. Ansonsten kann man XP auch für andere kurzfristige Dinge ausgeben, wie etwa das Wiederholen eines Wurfes.
Hui, jetzt ist das aber lang geworden. Dann hebe ich mir die Schmankerl für den letzten Teil auf, dort erklär ich dann auch endlich die Bedeutung der Cyphers im Regelwerk und GM Intrusions.
Okay. Und was genau reizt Dich jetzt so sehr an „The Strange“ / Cypher?
Zwei geile Konzepte schulde ich Euch noch und sie stehen mit Absicht in diesem Teil, weil sie den „story-driven“ Aspekt des System unterstreichen, den ich so herausragend finde. Ich lass Euch aber noch zappeln. Ich habe eingangs erwähnt, dass ich in vielen Welten zu Hause bin und das hat einen Grund: Ich stehe unglaublich auf Geschichten. Die Story ist für mich das wichtigste in einer Rollenspielrunde – klar, auch mein Charakter und wie ich ihn spielen kann, oder auch mal ein krass herausfordernder Kampf, aber letzten Endes will ich eine Geschichte erzählt bekommen, in der ich selbst mitspiele, bzw. sie selbst beeinflusse. Und auch als Spielleiter will ich mich nicht mit ausufernden Regeln rumschlagen, die mir im worst case übermächtige Spielercharaktere bescheren, denen ich keine Herausforderungen mehr stellen kann. Zumindest auf dem Papier bietet mir das dieses System:
Die Würfelei bleibt bei den Spieler*innen. Die Regeln sind recht einfach, setzen aber voraus, dass man sein disbelief etwas suspendet, das ganze wird halt etwas „unrealistischer“ in einigen Aspekten, vor allem im Kampf. NPC sind keine gleichwertigen Charaktere im Regelsinne, sondern bekommen letztendlich „nur“ einen Level (Tier) verpasst, der gleichzeitig den zu schlagenden Schwierigkeitsgrad für alle Würfe gegen oder für sie darstellt. Das klingt nach so herrlich wenig Routine-Arbeit für mich als Spielleiter! Als Spieler finde ich das strategische Element des Effort / Mühe gebens sehr spannend, da man hier halt nicht völlig vom Würfelglück abhängig sein muss, wenn es drauf ankommt.
Für den letzten Schliff droppe ich nun auch endlich die versprochene Erklärung zu Cyphers und GM Intrusions, die letztendlich aus meiner Sicht Werkzeuge für den Story-getriebenen Spielfluss sind, die man in anderen Systemen eher unter Tips & Tricks für gamemastering verbuchen würde. Hier sind sie aber mit Ansage Teil des Regelwerks.
Cyphers sind der „Ersatz“ für die spärliche Weiterentwicklung der Spielercharaktere. Sie bieten auf der einen Seite unglaublich krasse Effekte, die auch mal eben eine ganze Stadt ausradieren können. Im Vergleich zu einem Stufe 9 Zauber in D&D unterliegt ein Cypher aber größtenteils der Kontrolle des*der Spielleiter*in. Cyphers sind Einmalzauber (wie Schriftrollen in D&D), können also nur einmal eingesetzt werden. Ja dann radiert halt die Stadt aus. EINMAL! Im Unterschied zu Schriftrollen legt das Regelwerk allerdings eine (zugegeben mit einer etwas hanebüchenen Umsetzung) Obergrenze für den Besitz von Cyphers auf, sodass man die nicht horten kann. Stattdessen werden die Spieler*innen animiert, ihre gefundenen Cyphers auch zu benutzen. Man verzichtet also nicht auf bombastische Aktionen, sondern auf die theoretische Routine, die eintritt, wenn das die Spieler*innen „einfach so“ können. Aus Spielleitersicht hat man damit mehr Kontrolle über die Optionen der Spieler*innen. Und klar, das kann man auch in anderen Systemen steuern – ich finde es aber super, dass mir das System so etwas von Anfang an „anbietet“.
Und die GM-Intrusions. Der*die fiese Spielleiter*in darf jederzeit hinterhältig in eine Spieleraktion eingreifen und den Spieler*innen eins auswischen: Ja nee, das hat doch nicht geklappt, mein Lieber, Deine 20 ist mir egal. Ach, na was ein Zufall, gerade JETZT kommt ein Wachmann vorbei, gerade als Du es schon fast ungehindert aus der Gefängniszelle geschafft hast. Ach herrje, jetzt hast Du den leisen Teil doch laut gesagt – upsi, der Türsteher hat das gehört! Er*sie muss dafür allerdings zwei XP spendieren. Einen behält der*die betroffene Spieler*in, der andere muss von diesem*r direkt an jemand anderen abgegeben werden. Der*die betroffene Spieler darf auch die Intrusion verweigern, muss aber dafür einen XP bezahlen. Und nochmal, das geht auch in anderen Systemen. Und das hat natürlich auch Potential zur Spieler*innen-Frust ohne Ende und darf nicht alle naselang eingesetzt werden. Das Buch gibt aber einige gute Beispiele, wie und warum man solche Intrusions zur Verbesserung des Spielflusses und Spaßes einsetzen kann, anstatt zur „Bestrafung“. Die Spieler*innen latschen mal wieder direkt am Hauptquest vorbei? Ja so ein Pech aber auch, dass Reinhold der Bergsteiger wie der letzte Trottel beim Klettern abrutscht und nun leider leider wohl zurück in die Stadt zum Arzt muss. Es erhöht wieder etwas die Kontrolle des Erzählers über die Geschichte. Muss natürlich alles im Rahmen bleiben, aber das ist ja beim Leiten immer so.
Last but not least: Mich spricht das Element des Weltenwechselns aus mehreren Gründen total an. Aus Spielersicht habe ich endlich einen triftigen Grund, warum ich in einer anderen Rekursion nicht alle zwanzig Hauptgötter aufzählen kann, obwohl mein Charakter das als jemand, der dort sein ganzes Leben schon wohnt, wissen müsste. Der gespielte Charakter selbst ist per Definition selbst ein*e Rollenspieler*in! Ein Besucher, der mit mir zusammen diese neue Welt entdeckt. Immersiver wird es nicht. Und aus Spielleitersicht kann ich mich austoben und meine Spieler*innen querbeet durch alle Rekursionen schicken, die ich mir ausdenken kann. Heute mit Ripley auf der Nostromo, morgen geiler Mecha-Fight in Neo-Tokyo 03, übermorgen Dämonenjagd in der Hölle. Yay! In irgendeinem Review habe ich gelesen, dass das Regelsystem zu schwach sei, um ein „richtiges“ Fantasy-Setting oder ein „richtiges“ SciFi-Setting abzudecken. Stimmt, weil es darum nicht geht. Wer unbedingt 20 Sessions in Ardeyn spielen möchte, um dort Drachen zu töten, kann natürlich auch gleich D&D spielen. Das Spiel ist auf „Hopping“ ausgelegt, d.h. ein/zwei Abenteuerchen in Recursion 1 und dann geht’s woanders hin. Oder auch mal wieder zurück. Und vielleicht begegnet man auch überall denselben Leuten und merkt es gar nicht….
Ich habe seit Jahren (fast Jahrzehnten) keine Runde mehr geleitet, bei The Strange juckt es mich aber echt. Mal schauen, was die Zukunft bringt…
Grandiose Zusammenfassung eines mit bis jetzt unbekannten Systems. Auch wenn es ein langer Artikel ist, hatte ich Spaß am Lesen und denke, dass es gerade für Gruppen toll ist, die gerne zwischen den Welten hüpfen und sich etwas Abwechslung gönnen wollen.
Wird es bei euch im Podcastfeed einen Ausflug ins Strange geben? Wenn ja freue ich mich schon darauf die Abenteuer zu hören und mit euch mitzufiebern.
Danke für die tolle Zusammenfassung
Ich bin etwas skeptisch. Bisher hat sich die Runde immer wieder für DnD entschieden ;) Ich bin dieser Art von System aber schon länger zugeneigt, weil ich Kämpfen immer sehr anstrengend finde. Ich hab das Gefühl, dass sich dieses System nicht so richtig für einen OneShot eignet, weil man in 2 Stunden nicht besonders viel tun kann… aber vielleicht sollte ich der Sache mal eine Chance geben ;) Auf jeden Fall sind coole Ansätze dabei, die ich vielleicht heimlich woanders unterschiebe.
Freut mich, dass das Lesen Spaß gemacht hat – ich hatte beim Schreiben auch Spaß :).
Über den Podcast kann ich natürlich keine Auskunft geben. Wenn es die Zeit zulässt und sich ein paar Spieler*innen finden (zumindest eine Interessentin hätte ich schon im Haushalt ;) ), leite ich gerne eine kleine Kampagne (einen One-Shot finde ich wie Björn auch eher unpassend) – ob wir das dann aufzeichnen und nen Podcast draus machen, steht aber auf einem völlig anderen Blatt ;).
Sehr schönes Review, danke :)
Mein persönlicher Kritikpunkt am System ist, dass ich kein Freund davon bin, wenn die Spieler wissen, ob sie eine Probe bestehen oder nicht. Ich habe aus meiner DSA-Zeit die Erfahrung mitgenommen, dass das frustrierend sein kann. Natürlich gibt es auch Mechaniken wie GM-Intrusions, um daran zu drehen. Irgendwie gut, dass sie dafür einen Weg gefunden haben, aus meiner Sicht muss das aber gar nicht sein. Aber dann fällt das ganze Würfelsystem langsam in sich zusammen. Die Grundidee und auch das Setting finde ich aber spannend. Wenn ich es spielen würde, würde ich aber vermutlich versuchen noch mehr von den Würfelwürfen zu streichen.
Die Masse an Optionen bei der Charaktererstellung klingt irgendwie verlockend, aber auch erschlagend, ich weiß nicht, ob mir das nicht zu viel wäre. Aber solange ich keinen Charakter erstelle, geht das schon klar^^
Ich glaube zusammenfassend gefällt mir die Idee des Systems, das System im Detail aber nicht. Dafür ist das The Strange-Setting sehr cool.
Auf das „Wissen, ob eine Probe bestanden wurde“ geht das Regelwerk tatsächlich auch ein. Es bleibt dem*der Spielleiter*in überlassen, ob er*sie den Schwierigkeitsgrad in jeder Situation transparent macht. Gerade bei Perception-Proben und allem, anderen, bei dem man gar nicht weiß, ob man Erfolg hatte oder nicht, würde ich als Spielleiter einen Teufel tun, den Schwierigkeitsgrad zu kommunizieren.
In Situationen jenseits von 0 und 1 würde man schauen, wie die Abweichung des erreichten Schwierigkeitsgrades zum definierten aussieht und dann halt entsprechend das Ergebnis anpassen. Das wird explizit erwähnt und weicht meines Erachtens gar nicht so sehr von den D&D-Proben ab.