Marie (Kurzgeschichte)

Jeder Atemzug schmerzte Marie furchtbar in der Brust. Trotzdem rannte die junge Frau panisch weiter unter dem dichten Blätterdach des Waldes, als wäre der Teufel hinter ihr her. Denn das war er.
Sie hatte etwas gesehen, das sie nicht hätte sehen sollen. Schlimmer noch, dieses… Ding… hätte es gar nicht geben dürfen. Marie war seit Jahren kein kleines Kind mehr, doch sie erinnerte sich noch gut an die Legenden vom Habbermog. Grausame Geschichten, um Kindern Angst zu machen.

Und Marie hatte furchtbare Angst. Denn was vor wenigen Minuten ihre Reisegruppe angegriffen hatte, war keine Geschichte. Kein Hirngespinst, sondern grässliche Wirklichkeit. Zuerst hatte es sich Oskar, das Zugpferd geholt. Väterchen war durch den Ruck vom Wagen geschleudert und Sekunden später von den langen Klauen zerfetzt worden. Mütterchen hatte geschrien, woraufhin sie gepackt und ihr Schädel mit dem mächtigen Kiefer zermahlen wurde. Das Geräusch würde Marie nie wieder vergessen. Wie laut jeder Knochen knackte und das weiche Fleisch gurgelnd aus den Seiten des Mauls gedrückt wurde. Sie war einfach losgerannt. Was aus ihrem Onkel geworden war, wusste sie nicht. Nein, das stimmte nicht. Sie wusste es, sie war nur nicht lang genug geblieben, um es zu sehen. Aber die Schreie hatte sie gehört. Und wie sie abrupt endeten.

Sie war gerannt und gerannt, das Kleid völlig zerrissen von Geäst und Gestrüpp. Das Gesicht bedeckt vom Blut ihrer Mutter war Marie gerannt, bis ihre Lunge zu sehr schmerzte, um weiter zu rennen. Die ganze Zeit hörte sie das tiefe, dumpfe Atmen des Habbermog, roch den fauligen Atmen des Todes in ihrem Nacken. Sie wusste nicht, ob er wirklich so nah war, oder ob ihre Fantasie ihr einen Streich spielte. Ob das alles real war. Zu viel Angst hatte sie vor der Antwort auf diese Frage. Also rannte sie weiter, bis sie kaum mehr als einen Schritt nach dem anderen machen konnte. Bis sie umfiel. Während die Welt um sie schwarz wurde, klammerten sich ihre Finger an ihren Holzring. Väterchen hatte ihn vor zwei Wintern geschnitzt und ihr geschenkt. Sie nahm noch verschwommen war, wie sich der Boden unter ihr bewegte. Zweifelsohne ein letzter Streich, den ihre Sinne ihr spielten.

Als Marie wieder zu sich kam, starrte sie auf dutzende Kräuter. Sie baumelten an dünnen Fäden aufgehangen über ihr von der nahen Zimmerdecke. Mühsam richtete sie sich auf, ihr ganzer Körper schmerzte. Sie befand sich in einem kleinen Raum in einem alten Holzbett.
“Sieh an, wer da zu sich kommt. Nimm dir Zeit, steh nicht zu schnell auf, sonst fällst du gleich wieder um!”, hörte sie eine warme Stimme krächzen. Als sie sich verwundert umsah, brauchte sie einen Moment, um zwischen all den Töpfen, Hölzern und Kräutern etwas zu erkennen. Da war ein runzliges Wesen, das mit einem großen Holzlöffel in einem Topf rührte und sie ansah. Das ledrige Gesicht war von tiefen Falten überzogen und die gebückte Gestalt ließ keine Schlussfolgerung zu, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Oder überhaupt um einen Menschen.
“Die Suppe braucht noch einen Moment, ich habe ehrlich gesagt erst in ein paar Stunden mit deinem Erwachen gerechnet.”
Nachdem sie die anfängliche Verwirrung beiseitegeschoben hatte, platzte es aus Marie heraus: “Wo bin ich? Nein, wo ist meine Familie?! Was war das für eine Kreatur, waru-“
Das Wesen hob gebieterisch die Hand und gegen ihren Willen versagte Marie die Stimme.
“Ich habe gesehen, was euch passiert ist. Aber ich sage dir jetzt – ich kann dir nicht mit Worten erklären, die du verstehen würdest. Was passiert ist, ist passiert.”
Ein Zittern ging durch Maries Hände, die sich in die raue Bettdecke krallten. Mit großer Mühe fragte sie: “Die anderen sind…”
“… tot, ja. Es tut mir leid. Doch es ist besser, du stellst dich der Wahrheit so früh wie möglich.”
“Warum hat es mich nicht auch umgebracht?”
“Das kann ich dir nicht sagen. Und es ist besser, wenn du nicht zu viel darüber nachdenkst. Hier, nimm die Suppenschüssel.”

Das Wesen streckte die Hand aus und bot Marie eine kleine Holzschüssel an, in dem sich eine gelbliche, dampfende Flüssigkeit befand. Die junge Frau zögerte einen Moment.
“Hör zu, du musst etwas essen. Ich will dir kein Leid antun, ich will dir helfen. Aber ich kann dich nicht von dem Erlösen, was passiert ist.”
“Ist es noch da draußen?”
“Ja. Es ist immer da.”

Wortlos nahm Marie die Suppe vorsichtig an. Der warme Geruch von Nüssen und Wurzelgemüse stieg ihr in die Nase. Ein Geruch, den sie sofort wieder erkannte. Gegen ihren Willen stiegen ihr Tränen in die Augen, als sie sagte: „Diese Suppe riecht so wie die Suppe, die meine Mutter früher im Winter oft gemacht hat.“
„Ich weiß. Es hat ein paar Jahre gedauert, bis ich sie so hinbekommen habe.“, antwortete das Wesen gedankenversunken. Dann hielt es inne. Das war etwas, was es nicht hatte sagen wollen. Maries Finger umklammerten die Schüssel, als würde sie ihr halt geben. Für einen Moment war es still zwischen den beiden. Dann fragte Marie mit ängstlicher Stimme: „Wer… Was bist du?“
Das Wesen drehte sich langsam um. Tiefe Trauer war in dem alten Gesicht zu erkennen. Es versuchte einen Schritt zum Bett zu machen, doch als Marie zuckte, wich es sofort wieder zurück.
„Hör zu, ich will dir wirklich nichts tun. Nicht läge mir ferner…“
„Was bist du?“, fragte Marie nun fordernder.
„…ich verstehe genau, wie du dich fühlst. Ich kenne deinen Schmerz. Ich habe das gleiche erlebt…“
„WAS BIST DU?“, schrie die junge Frau mit Tränen in den Augen.
Das Wesen seufzte lang. Dann zeigte es seine knochige linke Hand, an der ein kleiner Ring aus Holz zu sehen war. Der gleiche Ring, den Marie trug.
„Ich bin Marie. Ich bin du.“


Diese Geschichte ist als Schreibübung entstanden. Wenn sie euch gefallen hat, könnt ihr mir den riesigen Gefallen tun und mir Feedback hinterlassen – sicherlich kann ich mich noch verbessern!

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